Lebenshilfe – OGH fällt richtungsweisendes Urteil: Betreuungsinstitution trifft keine Aufsichtspflicht

Selbstbestimmung wiegt mehr als Aufsichtspflicht bei Menschen mit Behinderungen: Was dieses Urteil für die steirischen Lebenshilfen bedeutet.

Graz, 29.02.2024

Ein Mann mit Behinderung, der von der Lebenshilfe Tirol begleitet wurde, überquerte die Straße ohne den Zebrastreifen zu benutzen. Er wurde von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Die Beifahrerin des Unfalllenkers verklagte daraufhin die Lebenshilfe Tirol auf Schadenersatz; sie vermutete eine Verletzung der Aufsichtspflicht.
Nun hat der Oberste Gerichtshof nach langem Rechtsstreit ein richtungsweisendes Grundsatzurteil gefällt.

Es sei keine Verletzung der Aufsichtspflicht, argumentiert der OGH: Volljährige Menschen mit Behinderung müssen – und sollen – nicht grundsätzlich rund um die Uhr „beaufsichtigt“ werden, da dies in klarem Widerspruch zu ihrem Selbstbestimmungsrecht stünde. Das Schadenersatzbegehren der Klägerin wurde daher abgewiesen.

Ein richtungsweisendes Urteil
„Dieses Urteil stärkt Menschen mit Behinderungen“, unterstreicht Sandra Walla-Trippl, Generalsekretärin der Lebenshilfe Steiermark, „Der Oberste Gerichtshof hält fest: Selbstbestimmung und Teilhabe wiegen mehr als Aufsichtspflicht und sind Rechte, die Menschen mit Behinderungen zustehen – und endlich in der österreichischen Rechtsprechung angekommen sind.“
Tatsächlich ist es das erste Mal seit Österreichs Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention vor nun über 15 Jahren, dass die dort verankerten Rechte in die Urteilssprechung miteinfließen.

Was das für die steirischen Lebenshilfen bedeutet
„Selbst einkaufen gehen, die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, zur Arbeit gehen oder an Freizeitaktivitäten teilnehmen – all das gehört zu einem selbstbestimmten Leben“, führt Walla-Trippl aus. „Unsere Aufgabe als Lebenshilfe ist es, die Menschen in ihren Fähigkeiten und in einem möglichst selbstbestimmten Leben zu bestärken.“
Weiters ist das Urteil ein Meilenstein für alle Organisationen, die Menschen mit Behinderungen begleiten: Es ist nicht ihre Aufgabe, alle Risiken von Dritten auszuschließen. Denn das geht auf Kosten der Selbstbestimmung und der Freiheitsrechte von volljährigen Menschen mit Behinderungen. Durch das Urteil des OGH werden Mitarbeiterinnen der Betreuungseinrichtungen dahingehend bestärkt, noch intensiver auf die Bedürfnisse der Kundinnen einzugehen, ohne dafür haftbar gemacht werden zu können.

Titelbild:Sandra Walla-Trippl ©Simon Fortmüller

Über den Autor

Dr. Rainer Hilbrand
Medieninhaber u. Geschäftsführer

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